Kindergesundheit in Deutschland

Ein Bericht



Auf der Tagung, für die die Alice-Salomon-Hochschule in Berlin-Hellersdorf sehr entgegenkommend Raum und die Technik zur Verfügung stellte, und die die Rektorin Professor Bettina Völter mit einem Grußwort eröffnete, sprachen die ReferentInnen wesentliche Bereiche der sozialen und medizinischen Versorgung der Kinder an. Der Bogen spannte sich vom Umgang in der Bundesrepublik mit der UN-Kinderrechtskonvention, den Anforderungen kinderärztlicher Arbeit im Krankenhausbereich, an den Kinderkliniken einschl. der Notfallbetreuung, und die ambulante Versorgung als niedergelassener Kinderarzt, die Situation im Öffentlichen Gesundheitsdienst bis zur Finanzierung medizinischer Leistungen. Dazu lag auch ein statistisches Material ebenso wie ein Auszug aus einer aktuellen Arbeit der Bundeszentrale für Politischen Bildung über das Gesundheitswesen der DDR vor.
  

Die Rektorin Prof. Bettina Völter ließ es sich nicht nehmen, mit Blick auf das Thema auf dringende Aufgaben gerade auf dem Gebiet der Ausbildung von Pflegekräften für Kinder hinzuweisen. Die Hochschule hält es für dringend notwendig und ist auch dabei, wieder die spezifische Ausbildung in der Kinderkrankenpflege zu verstärken. Das gängige Berufsbild einer überall einsetzbaren Allround- Pflegekraft wird den Anforderungen an eine qualifizierte Kinderpflege nicht gerecht. 

Professor Dr. Michael Klundt, Professor für angewandte Humanwissenschaften /Kinderpolitik an der Hochschule Magdeburg-Stendal - es ist die erste Professur auf diesem Fachgebiet in Deutschland- charakterisierte den politischen und völkerrechtlichen Status der UN-Kinderrechtskonvention, der die Bundesrepublik 1992 zwar beigetreten ist, aber deren Konsequenzen bei weitem nicht erkannt bzw. umgesetzt sind. Er belegte, wie in der Bundesrepublik sich die Vernachlässigung verschiedener Bereiche der Kinderpolitik auf den sozialen und gesundheitlichen Status der Kinder negativ auswirkt. Wichtig auch seine Analyse der negativen Folgen auf viele Kinder der aus seiner Sicht und im Vergleich mit anderen Ländern medizinisch-epidemiologisch nicht begründbaren langanhaltenden Schließung von Schulen und Kindereinrichtungen während der Corona-Pandemie.

Mit Blick auf die politische Auseinandersetzung um die sogenannte Kindergrundsicherung fordert er zur Vermeidung von Kinder- und Familienarmut die folgenden Maßnahmen. Neben einem armutsfesten Mindestlohn, einer wirklich aufgaben- und nicht ausgaben-orientierten Kinder- und Jugendhilfe und einer vollständigen Gebühren-sowie Lernmittelfreiheit für (frühkindliche) Bildung (von Büchern bis Hardware) sowie einem kostenlosen gesunden Mittagessen und gebührenfreie Vereine, Sport, Musik, Kultur, sind erforderlich 

- eine Neuberechnung des Existenzminimums, da die momentane Ermittlung nachweislich nicht bedarfsgerecht ist. 

- ein Abbau von Ungerechtigkeiten in der Familienförderung, da derzeit am meisten bekommt, wer am reichsten ist. 

-der Zugang zu Sozialleistungen muss durch Bündelung an einer Stelle einfacher gestaltet werden, um Bürokratie, Stigmatisierung, Demütigung und Unkenntnis zu vermeiden. 

Wichtig ist bei allen Überlegungen, dass Kinder und ihre Familien nach den anvisierten Maßnahmen auch wirklich aus Armut und Hilfsbedürftigkeit befreit werden.

 

Die an der Charité arbeitende Kinderärztin Songyl Jürek schilderte ihren ärztlichen Alltag an einer Universitätskinderklinik, den Dauerdruck angesichts der mit ÄrztInnen und Pflegekräften knapp besetzten Stationen oder auch in der Kinderettungsstelle. Sie machte klar, dass Kinderheilkunde nicht einfach eine Medizin für kleine Erwachsene ist, sondern vielfach ein anderes, spezifisches, auch mehr Zeit forderndes Umgehen mit den kleinen Patienten und ihren Eltern erfordert (Ein Sachverhalt, der z.B. bei den finanziellen Abrechnungspauschalen bisher kaum Berücksichtigung findet). Frau Jürek informierte über die Vorschläge und Aktivitäten der Initiative Berliner Kinderkliniken, deren stellv. Vorsitzende sie ist, eine Veränderung einzufordern und durchzusetzen. Für sie sind feste ärztliche Versorgungsschlüssel und eine transparente ehrliche Personalplanung zwingend, die Teilzeiten, Schwangerschaftsurlaub und auch die Weiterbildung nicht vergisst. Mit mehreren „Brandbriefen“ wurde die Berliner Politik auf die Defizite hingewiesen, Vorschläge unterbreitet. Nur ein Beispiel: Warum nach Vorstellungen der Politik für ein erkranktes Kind 40 Minuten Autofahrt bis zur nächsten Klinik im Unterschied zum Erwachsenen (20 Minuten) zumutbar sein soll, ist für sie nicht vermittelbar. Zwar hat der Berliner Senat in seiner Koalitionsvereinbarung Aufgaben für die Kindermedizin formuliert. Ihre Umsetzung scheint für Frau Jürek höchst fraglich.

 

Als Diskussionsbemerkung wies die viele Jahre im Kinder- und Jugendgesundheitsdienst zu DDR-Zeiten und seit 1990 in einem Gesundheitsamt tätige Kinderärztin Frau Dr. Börner auf Lücken und häufigere Qualitätsmängel der gesetzlich geforderten Schuleingangsuntersuchungen und weiterer Vorsorge-Untersuchungen bei Kindern hin. Das ist auch im Fehlen ausreichend erfahrener Kinderärzte begründet.

 

Bekannt wurde der niedergelassene Kinderarzt Dr. Steffen Lüder aus Hohenschönhausen mit seiner Entscheidung, in seiner Sprechstunde unter Ignorierung/Überschreitung der einschlägigen Budgetierungsvorgaben der Kassenärztlichen Vereinigung keine Patienten abzuweisen und alle Kinder so schnell wie möglich ärztlich zu versorgen. Die sich akut verbreitende RS-Infektionen und Grippeerkrankungen machten das ärztlich zwingend erforderlich. Diese Überschreitung der zugebilligten Patientenzahl hat er später mit Urlaubstagen wieder „ausgeglichen“. Dr. Lüder, der an der Tagung nicht teilnehmen konnte, hat seine Sicht auf die ambulante kinderärztlichen Betreuungsstruktur nachgereicht. Gegenüber RBB hatte er schon zum Ausdruck gebracht: „Wir brauchen einen kompletten Systemwechsel in der Medizin. …. Wir reden hier über Versäumnisse der letzten 25 Jahre. … Gesundheit und Kapitalismus - das sind zwei Dinge, die nicht zusammengehen. Solange unser medizinisches System marktwirtschaftlich organisiert ist, solange wird es keinen Ausweg geben“. 

Eric Krase, wiss. Mitarbeiter an der Professur Gesundheitsförderung (Prof. R. Geene) der ASH, informierte über erste Ergebnisse einer Untersuchung im Land Brandenburg über die Auswirkungen der Pandemie auf die „frühkindlichen Hilfen“ für Kinder bis zu drei Jahren, ein ohnehin empfindliches Konstrukt aus Hilfsangeboten verschiedener Quellen auf der Ebene der Kommunen. Die Befragungen beteiligter Familien-Hebammen und anderer Fachkräfte zeigten die negativen Folgen von Pandemie-Maßnahmen, insbesondere der Kontaktverbote, und die dadurch ausgefallenen Hausbesuche, persönlichen Kontakte oder überhaupt von angezeigten Maßnahmen bis hin zu „Krabbelgruppen“ oder Babyschwimmen. Besonders bei sozial belasteten Familien machte sich der Einbruch der Melde- und Kontaktkette bemerkbar, weil gerade hier oft auch die elektronischen Kontakte (Zoomen) fehlten. Auch die Erreichbarkeit der Jugendämter war erschwert. So empfanden die Helfenden wie Betroffenen die Pandemie-Maßnahmen vor allem als „toxischen Stressfaktor“; sie führten zu einem Anstieg psychosomatischer Beschwerden und Konflikten. Eric Krase bezeichnete diese Befunde als ein „präventives Dilemma“. Die am meisten der Hilfe bzw. Vorsorge Bedürftigen wurden in dem Hilfesystem in der Pandemie am wenigsten erreicht.

Der Gesundheitsökonom Hartmut Reiners, erinnerte sich an eine Begegnung mit Mitja Rapoport um das Jahr 1990 und an dessen berechtigten Zorn über das Stillhalten der damaligen DDR-Regierung de Maiziere und ihres Gesundheitsministers, als es um den Erhalt bewährter Strukturen des DDR-Gesundheitswesen ging, wie z.B. der Polikliniken.

Er beschrieb die seit Langem kritikwürdigen Schwachstellen des geltenden Finanzierungssystems ärztlicher Leistungen und forderte eine radikale Änderung. Dazu gehören auch die anhaltenden bekannten, sachlich nicht zu rechtfertigenden Einkommensunterschiede zwischen verschiedenen Facharzt- Richtungen. Kinderärzte und Hausärzte stehen in diesem Ranking an hinterer Stelle.

Er sprach für die Förderung und Ausbau integrierter Versorgungsformen und das Abreißen der Mauer zwischen ambulanter und stationärer Versorgung. 

Der Aufbau eines einheitlichen und solidarisch finanzierten Krankenversicherungssystems ist dringlich.

Das der Tagung vorliegende statistische Material des Kinderarztes Professor Wolf-Rainer Cario enthält Hinweise zu den Ursachen der über Jahre entstandenen aktuellen kritischen Situation.  Aus der Entwicklung der Ärztezahlen ergeben sich Forderungen für eine verstärkte Ausbildung von Kinderärzten und ihre bessere territoriale Verteilung. Die Unterbesetzung mit Kinderärzten selbst   in einigen Bezirken einer Großstadt wie Berlin ist schwer zu erklären. 

So hat sich zwar insgesamt in der Bundesrepublik die Anzahl der Kinderärzte von 14.499 (2018) auf 16.644 (2022) erhöht. 7.976 (2021) arbeiteten davon im ambulanten Bereich. Ihr Anteil an der Gesamtärztezahl liegt bei 3,9 Prozent, an der Zahl der ambulant tätigen Ärzte bei 4, 9 % (Eine Anmerkung: in der DDR waren 1988 etwa 10 Prozent aller ambulanten Ärzte Kinderärzte). 

Der seit 1990 stark gewachsene Anteil von Kinderärztinnen (2021 waren 76 % der Facharztanerkennungen Pädiatrie Frauen) und auch der deutlich gestiegene Anteil von angestellten Kinderärzten im ambulanten Bereich (etwa 27 %) haben Folgen für das tatsächlich zur Verfügung stehende Arbeitszeitvolumen. Etwa 10 % der ambulanten Kinderärzte seien nicht an der Basisversorgung beteiligt.

Die Zahl examinierter Kinderkrankenpflege-Kräften hat sich von ca. 42.000 (1996) auf etwa 38.000 verringert.

Die Erfolge bei der Erhaltung von Leben und Gesundheit der Kinder durch bessere Behandlungsmethoden führen zum Teil zu einem höheren ärztlichen und Betreuungsaufwand. Die Zahl nötiger und geforderter Vorsorgeuntersuchungen ist gestiegen. Die Anzahl chronisch kranker Patienten (wie Asthma, Allergien, rheumatische Erkrankungen, organtransplantierte und onkologische Patienten) haben zugenommen. 

Entgegen manchen früheren Prognosen hat sich die Zahl der Kinder und Jugendlichen in Deutschland in den letzten Jahren deutlich von 9,8 Mio (2013) auf etwa 10,7 Mio 2021, 11, 14 Mio. 2022 erhöht, darunter die Zahl der Kinder aus Migrationsfamilien mit auch spezifischen gesundheitlichen Betreuungsanforderungen bis hin zur Sprache.

Der Sozialmediziner Dr. Heinrich Niemann, schätzte in seinen Schlussbemerkungen für die einladende Rapoport-Gesellschaft ein, dass mit den vorgetragenen Beiträgen und der Diskussion eine solide fachliche Grundlage für die weitere Arbeit besteht. Der Verein möchte im vertiefenden Gespräch mit den Referenten und weiteren sachkundigen Partner bleiben und diese Ergebnisse veröffentlichen

Er sprach seine Überzeugung aus, dass bei entsprechendem politischen Willen und Beachtung der medizinisch fachlichen Erfordernisse und einer Bereitschaft, neue Strukturen zuzulassen bzw. zu erproben, positive Veränderungen möglich wären: in der Anzahl und Qualifikation ausreichender Ärzte, in der Abschaffung der fachlich nicht zu rechtfertigenden, aber stark behindernden Barrieren zwischen ambulanter und stationärer Medizin, in der Verstärkung der kinderärztlichen Bereiche  der Gesundheitsämter und einer verzahnten Zusammenarbeit mit den ambulanten Kinderärzten  und einer bundesweiten fachlich soliden Gesundheitsberichterstattung über den Gesundheitszustand und die Wirksamkeit gesundheitsfördernder Maßnahmen der Kinderpopulation. 

Er spannte einen Bogen zu der Frage, ob man denn nicht aus den Ergebnissen und Erfahrungen der DDR gerade auf dem Gebiet der Kindergesundheit etwas lernen könnte. Eine aktuelle Arbeit der Bundeszentrale für Politische Bildung vom März 2022 kommt hier auf bemerkenswerte Ergebnisse (Sabine Böttcher: Gesundheit und Gesundheitsversorgung in der DDR).

Unter der Überschrift „Stärken des Gesundheitssystems der DDR“ heißt es darin: „Zu den Stärken des Gesundheitssystems der DDR gehörten, neben den flächendeckenden medizinischen Einrichtungen auch im ländlichen Raum, vor allem das breite Angebot an Vorsorge- und Reihenuntersuchungen sowie Beratungsstellen. Besondere Förderung erfuhren eine medizinische und soziale Schwangerenbetreuung, die Mütterberatung, Früherkennungsuntersuchungen bei Kleinst- und Kleinkindern, die Früherkennung von Krebserkrankungen, Impfprogramme zur Vermeidung von Infektionskrankheiten und zunehmend auch die Aufklärung über gesunde Lebensweise und Ernährung.

Ein besonderes Augenmerk der DDR lag auf der Gesundheit von Kindern. So gab es 1979 zum Beispiel 897 Schwangerenberatungsstellen und 9.955 Mütterberatungsstellen, in denen 225.600 Säuglinge und deren Mütter betreut wurden. Die Mütterberatungsstellen waren an Polikliniken und Ambulatorien angegliedert und dienten der kontinuierlichen Begleitung von Müttern mit Kindern bis zum Alter von drei Jahren. Hier erfolgten ärztliche Untersuchungen und die Immunisierung der Kinder sowie die Beratung der Mütter. Auch die Rachitis- und Fluorprophylaxe war in den Mütterberatungsstellen angesiedelt. In den Kinderkrippen, Kindergärten und Schulen fanden regelmäßige Reihenuntersuchungen statt, in vielen Schulen gab es Schulzahnärzt*innen. Zusätzlich wurden Entwicklungssprechstunden für chronisch kranke Kinder über das dritte Lebensjahr hinaus angeboten.“

Mit einem Zitat von Inge Rapoport, das auf verpflichtende Weise die Herausforderungen nicht nur für die Kindergesundheit charakterisiert, wurde die Fachtagung beendet:

„Ich habe mein ganzes politisches Leben hindurch … die Welt durch die Brille eines Arztes gesehen, dem Armut, Elend und Krankheit die Hauptfeinde sind. …   Die beste menschlichste und wissenschaftlichste Medizin bleibt letztlich hilflos unter Bedingungen sozialen Elends. Die heutige Welt liefert dafür die zwingendsten und schrecklichsten Beweise. Aber auch die Umkehrung des Satzes stimmt: Selbst das beste soziale Umfeld ist ohne eine wissenschaftlich und humanistisch hochstehende Medizin Krankheiten gegenüber ohnmächtig.“